DIE ANSICHTEN DER «GENERATION YU»
von Andreas Ernst
Die beiden Autoren dieser Stadtportraits gehören zur letzten Generation, die im titoistischen Jugoslawien erwachsen wurde. Als sich 1990 der Verfall des Landes gefährlich beschleunigte, war Miljenko Jergović 24 Jahre alt, Goran Potkonjak nur zwei Jahre jünger. Man könnte die beiden als Vertreter einer «Generation YU» bezeichnen und damit eine Altersgruppe umschreiben, die über ganz Jugoslawien hinweg lebensweltlich und kulturell vieles verband. Zum Beispiel die Musik von Bijelo Dugme aus Sarajevo, oder die «neue Welle», die zu Beginn der 1980er Jahre die Musikszenen aufmischte. Diese Generation konsumierte in einem gemeinsamen Musik- und Literaturmarkt, trug die gleichen, meist aus Italien stammenden Jeans und begeisterte sich für den Basketball und den Fussball ihrer erfolgreichen Nationalmannschaften. Wer dieser Generation angehörte, hatte ein Schulsystem durchlaufen, das ähnliche Werte vermittelte, war Mitglied bei den Pionieren, dem Jugendverband «Omladinci» und konsumierte Medien mit vergleichbaren Inhalten – egal, ob er in Sarajevo, Zagreb oder Belgrad wohnte.
Der Krieg brach über das Land und diese Generation herein wie eine Naturkatastrophe. Jergović zieht den Vergleich mit einem Erdbeben, das die Bürger aufschreckt und auf die Strasse treibt. Sie versammelten sich dort, nicht weil sie Veränderungen wollten, mehr Demokratie, mehr Parteien oder mehr Pressefreiheit: Die 1980er waren ohnehin Jahre einer liberalen Öffnung des Systems, wovon allerdings jene am meisten profitierten, die es wenig später im Zeichen des Nationalismus wieder schlossen. Nein, die Bürger gingen auf die Strasse, weil ihnen die politische Elite erfolgreich den Schrecken vor den Nachbarn eingejagt hatte. Dieser Zerfall wurde oben eingefädelt, in einer Gesellschaft, die es gewohnt war, den Mächtigen zu glauben oder wenigstens zu gehorchen. Der Widerstand sowohl gegen den völkischen Nationalismus als auch gegen die kriegstreiberische Rolle der Kirchen blieb schwach, weil die Schicht der aufgeklärten Bürger schwach war. Die Modernisierung des Landes war nicht genügend weit fortgeschritten, um der Produktion von Feindbildern einen alternativen Gesellschaftsentwurf entgegen zu halten. So kam der Krieg.
Goran Potkonjak ging weg. Er verliess Zagreb 1991, emigrierte über Irland in die Schweiz, begann eine eindrückliche Karriere als Fotograf und Musikveranstalter und lebt heute in Zürich. Miljenko Jergović harrte bis 1993 im belagerten Sarajevo aus, spielte zeitweise mit dem Gedanken, in den Westen auszureisen, liess sich dann aber in Zagreb nieder. Schon damals ein bekannter Schriftsteller, blieb er seinem Sprachraum treu und lebt seither in der kroatischen Hauptstadt. Wie unterschiedlich zwei Emigranten die Städte ihres untergegangenen Landes portraitieren, wie verschieden die Blickwinkel und Standpunkte sind, zeigen die vorangehenden Seiten. Die Differenzen sind, wie wir sehen werden, nicht nur dem unterschiedlichen Medium, der Sprache, der Fotografie geschuldet. Und es gibt durchaus Gemeinsamkeiten. Eine davon, so scheint mir, liegt in der schmerzhaften Zuspitzung, welche die Bilder und Erinnerungen an die jeweilige Heimatstadtbeinhalten: Potkonjaks Zagreb und Jergovićs Sarajevo. Das überrascht nicht, denn dieser Abschied war nicht freiwillig. Man brach nicht auf für eine Karriere oder aus Neugier oder Überdruss. Es war der Krieg, es waren die Feinde und vielleicht auch das Verschwinden der Freunde, welche den Aufbruch erzwangen. Beide, der Schriftsteller und der Fotograf, wurden weg getrieben.
Die damit verbundene Verletzung wendet den Blick ins extrem Subjektive. Wenn Potkonjak, fast zwanzig Jahre nach dem erzwungenen Abschied, seine Kamera auf die Heimatstadt Zagreb richtet, entstehen merkwürdige Bilder. Man sieht viel Brachland, braune Felder unter fahlem Himmel, menschenleere Flächen, triste Strassenzüge und heruntergekommene Wohnblocks. Einer der wenigen Farbtupfer, wo es dem Betrachter ein bisschen warm ums Herz wird, sind drei kleine Punks, die schüchtern und etwas trotzig ihre farbigen Haarsträhnen präsentieren. Erinnern sie Potkonjak – ausnahmsweise nostalgisch – an seine Jugend? Es fehlen, wie auch bei seinen andern Stadtportraits, die Wahr- und Erkennungszeichen, der Ban-Jelačić-Platz beispielsweise, die Altstadt, die bürgerlichen Wohnquartiere. Es fehlen überhaupt Punkte, an denen sich das Auge festhalten möchte. Ist das noch Melancholie oder schon die Wut des Verstossenen, dem vieles fremd geworden ist in den Jahren? Ein Blick zurück im Zorn? Als eine scheue Katze kann man sich den Fotografen vorstellen, die auf leisen Pfoten durch die Stadt schleicht, den Menschen ausweicht und genau, aber ohne Interesse hinschaut. Worin bestünde ihre Beute?
Auch Jergovićs Blick auf Zagreb ist nicht besonders liebevoll. Er lobt zwar die Qualität des titoistischen Wohnungsbaus in der Neustadt, mit Häuserblöcken, die trotz ihrer Monumantalität das menschliche Mass bewahren. Aber das Provinzielle der Stadt geht ihm auf die Nerven. Nicht ihre historische Spielart, die sich in der österreichischkroatischen Tradition äussert: den Verwaltungs- und Repräsentationsbauten, welche die k.u.k. Monarchie in ihrer Randprovinz errichtete. Was ihn stört ist die gewollte Monokultur und die damit verbundene Vorstellung, «europäischer» zu sein. Anders als früher beziehen sich Zagreb und Belgrad nicht aufeinander und ergänzen sich auch nicht mehr. Die konkurrierenden Schwestern haben sich voneinander abgewandt. Zagreb, findet Jergović, sei selbstgenügsam und damit irgendwie bieder. Aber stimmt das? Vielleicht sind heute München, Triest oder Graz die Städte, in denen sich Kroatiens Kapitale spiegelt? Jergović räumt ein, dass er das Zagreb, in dem er seit zwei Jahrzehnten lebt, viel weniger kennt, als jenes vor dem Krieg. Einsamkeit? Nostalgie?
Seine Heimatstadt ist Sarajevo, oder besser: war Sarajevo, und hier wird es ernst. Bis vor ein paar Jahren plagte ihn eine gewisse Sehnsucht nach Sarajevo. Besuche konnten sie nicht stillen. Diese Sehnsucht starb mit der Mutter 2012 und zur Trauer gesellte sich Erleichterung, nicht mehr dorthin fahren zu müssen. Wenn Jergović schreibt: «Ich weiss nichts über Sarajevo», wenn er sich wünscht, auf einem Schiff in der Adria geboren zu sein, wenn fast alle seiner Träume in dieser Stadt spielen, dann spürt man, wie schwer es dem Exilierten fällt, sich der alten Heimat wieder zu nähern. Vielleicht ist das besonders schwierig im Fall Sarajevos, einer Stadt, die mit einem Überhang an Bedeutung belastet ist. Eine Stadt wie ein Vexierbild, in der jeder sieht, wonach er sucht: Das multikulturelle Sarajevo (auch wenn es heute nur noch Fassade ist); die Stadt, in welcher der Erste Weltkrieg begann (auch wenn es zwischen Gavrilo Princips Schüssen und dem Angriff Österreich-Ungarns auf Serbien keine notwendige Verbindung gibt); oder Sarajevo die Märtyrerstadt der Jugoslawienkriege, bei deren Strangulierung die Welt erbarmungslos zuschaute usw. Wie setzt sich Jergović damit auseinander? Ihn interessiert auch hier die Vergangenheit. Princips Gesinnungstat zum Beispiel, für die er Verständnis, ja Sympathie hegt. Dann die Epochenfolge, die beim Betrachten der Stadt sichtbar wird: das osmanische Sarajevo, das österreichisch-ungarische, das jugoslawische Sarajevo. Nur die jüngste Epoche interessiert ihn nicht. Die Bauwut der Oligarchen, der ausländischen Investoren, welche die Kriegszerstörungen überdeckt hat. Das «Verschwinden» der Serben aus der Stadt. Es ist eine grosse und schmerzhafte Arbeit, sich der Stadt, aus der man mit Granaten vertrieben wurde, wieder anzunähern: sich ihre Gegenwart anzueignen, zu prüfen, was geblieben ist und was verschwand. In den Portraits ihrer Herkunftsstädte geben die Autoren davon nichts preis.
Weniger radikal als beim Porträt seiner Heimatstadt Zagreb verfährt Potkonjak bei der Darstellung Sarajevos. Aber wieder sind es melancholische, menschenleere Ansichten, die dominieren. Vororte, in den Hang gebaut, manche Häuser unfertig. Dann der heruntergekommene Bahnhof von Bistrik, wie ein Symbol des beklagenswerten Zustands der Eisenbahn, der unterstrichen wird durch einen vorbeiflitzenden Autobus – das Vehikel der Wahl all jener, die auf den öffentlichen Verkehr angewiesen sind. Den Ratschlag von Jergović, Sarajevo solle am besten mit der Bahn erreicht und wieder verlassen werden, befolgen nur wenige (er selber macht das eingestandenerweise auch nur im Traum). Potkonjak zeigt die leere Bahnhofshalle mit der Uhren-Skulptur, das verlassene Stadion und das verrammelte Museum, das aus Mangel an Geld und Interesse geschlossen ist. Ein trauriger Ort. Davon hebt sich, irgendwie heroisch, das Bild der drei Männer ab. Sie schauen vom Berg hinunter auf die Stadt, die sich im Tal ausbreitet. Das Bild zitiert die Schlusseinstellung des berühmten Partisanenfilms von Hajrudin Krvavac «Valter brani Sarajevo». Die Deutschen haben sich am Widerstandswillen des legendären Walter die Zähne ausgebissen und ein Wehrmachtsoffizier, bereits auf dem Rückzug, zieht den Schluss: «Jetzt, wo ich gehen muss, weiss ich wer Walter ist.» Er zeigt auf die Stadt. «Das ist Walter!» In der Stimme des Offiziers schwingt Bewunderung mit. Auch Potkonjaks Foto evoziert sie. Gilt sie dem Film oder der Stadt? Wie gesagt: Sarajevo wirkt wie ein Vexierbild.
Vor Potkonjaks skeptischem Blick ist natürlich auch Belgrad nicht gefeit. Man kann sich vorstellen, wie der Fotograf als «Heimatloser» zurück kommt und sucht, was geblieben ist von damals, als er ein junger Mann war. Was er findet, ist deprimierend. Denn es ist ja nicht nur die Jugend verflogen. Die Auswahl an urbanen Zwischenräumen, Investitionsruinen, heruntergekommenen Gebäuden, leckenden Flussbooten ist in Belgrad in der Tat gross. Man kann diese Stadt trefflich zum geschundenen Ort stilisieren (so und so viele mal bombardiert, mit Sanktionen belegt, von Wirtschaftskrisen heimgesucht usw.). Viele Belgrader machen dies gern, vor allem gegenüber ausländischen Besuchern. Aber das ist eine einseitige Interpretation. Man kann ihr das lebenslustige Belgrad gegenüber stellen, mit den Familien, die sich auf der Ada Ciganlija erholen, der Ausgehszene und den Kulturzentren in der Savamala. Oder das friedlich-gelassene Belgrad auf dem Kalemegdan, wo unter den grossen Bäumen die alten Männer Schach spielen. Und gibt es nicht das städtebaulich interessante Belgrad? Die in die Jahre gekommenen Neubausiedlungen jenseits der Sava in Neu-Belgrad, die ein beliebtes Studienobjekt für Architekturstudenten aus vielen Ländern sind? Und es gibt natürlich auch jene, die nach Belgrad kommen, um die Turbo-Architektur aus den 1990er Jahren zu studieren. Gewiss, auch diese Auswahl ist einseitig. Aber wer diese Aspekte ausblendet, will sich hier nicht zuhause fühlen. Weshalb versteckt der Fotograf die schwebende Rotonde des Fliegermuseums beim Flughafen hinter einem Baum? Vielleicht weil sie ein Symbol der jugoslawischen Fliegerei ist, die eine Bauchlandung machte, wie alles, was einst unter dem Kürzel YU in Erscheinung trat. Aus Potkonjaks Sicht ist vom alten (guten?) Jugoslawien nichts geblieben. Und was seither entstanden ist, interessiert ihn kaum.
Hier, in Belgrad, trennen sich Potkonjaks und Jergovićs Wege. Zwar mögen sich beide auf die Gegenwart ihrer Heimatstädte Zagreb und Sarajevos nicht einlassen. Aber anders als der Fotograf findet der Schriftsteller – erstmals in seinem Leben – Gefallen an Belgrad. Früher mochte er die Stadt nicht, er schwänzte die Schulausflüge zum Tito-Mausoleum. Später verabscheute er die Stadt als Zentrum einer verbrecherischen Politik, die ihn und Hunderttausende zu Flüchtlingen machte. Da ist kein Platz für Nostalgie, die vom heutigen Belgrad enttäuscht werden könnte. Das ist die Chance für Belgrad, entdeckt zu werden, bzw. für Jergović, sich der einzigen Grossstadt des untergegangenen Landes mit Interesse zu nähern. Und was findet er? Dass hier alle jugoslawischen und balkanischen Identitäten versammelt sind. Die Stadt hat einen Teil ihres kosmopolitischen Geistes gegen den provinziellen Reinheitswahn des serbischen Nationalismus verteidigt. Sie ist vielfältig, farbig und reich an Überraschungen: ein urbaner Ort.
Belgrad-Sarajevo-Zagreb: Das war die Achse, um die Jugoslawien sich drehte. Die Auflösungserscheinungen wurden zuerst an den Rändern sichtbar. In Ljubljana untergrub eine avantgardistische Subkultur in den 1980er Jahren den steril gewordenen Glauben an Tito und die Partei. Es war eine Bewegung, der sich junge Leute aus allen Landesteilen anschlossen – für sich gesehen also keineswegs eine Bedrohung für Jugoslawien – sehr wohl aber für den real existierenden Staat, der sich als reformunwillig und –unfähig erwies. Von anderer Qualität war der Widerstand, der im Kosovo im gleichen Jahrzehnt begann. Albanische Studenten, ohne Aussicht, mit ihren Abschlüssen je eine angemessene Stellung zu finden, wurden zur Avantgarde einer Bewegung, die sich die nationale Befreiung auf die Fahnen schrieb. Doch erst die repressive Reaktion des Staates garantierte der Bewegung die Zukunft. Eigentlich ist es paradox: Für viele Vertreter der «Generation YU» war das Land gerade in seiner Endphase das richtige und gute Jugoslawien – daher rührt die Nostalgie. Es war liberal, weltoffen und multipolar. Gleichzeitig nahm die ideologische Kohäsion des Systems rapide ab. Die Eliten begannen sich nach neuen Begründungen für die Legitimität ihrer Herrschaft umzusehen – und fanden sie im völkischen Nationalismus. Das Land zerfiel nicht entlang seiner ethnischen Grenzen. Die Konfliktlinie verlief zwischen jenen, die eine grundlegende Reform des Jugoslawismus für machbar hielten und jenen, die flugs vom Sozialismus auf den Nationalismus umsattelten, um oben zu bleiben. Diesen Opportunisten nützte zusätzlich die Verunsicherung, die das Ende des Kalten Krieges für Jugoslawien bedeutete. Mit dem – vorläufigen – Ende des Ost-West-Konflikts hatte es seine geostrategische Bedeutung schlagartig verloren.
Was ist geblieben von Jugoslawien? Ist es naiv zu sagen, eigentlich sei – abgesehen vom disfunktional gewordenen politischen System – alles noch da? Zählen wir auf: Ein gemeinsamer Kulturraum konstituiert und zusammengehalten durch die Sprache. Literatur, Film, Musik, die in allen Nachfolgestaaten produziert und konsumiert werden und einen Markt bilden. Enge wirtschaftliche Beziehungen überhaupt, touristischer Austausch, familiäre Bande. Allen Nachfolgegesellschaften gemeinsam ist auch der Glaube an Autoritäten, konservativ-patriarchalische Weltanschauungen, die Staatsferne und die Klientelsysteme der Parteien. Auf diese Gemeinsamkeiten, die den untergegangenen Staat überlebt haben, beziehen sich viele Bürger und empfinden die Nachbarschaft keineswegs als Ausland. Und dennoch oder vielmehr wegen dieser engen Verflechtungen sind die Irritationen zwischen den Nachfolgestaaten zahlreich und heftig. Fast obsessiv werden die Nachbarn beobachtet, werden Unrecht und vergangene Verbrechen aufgerechnet. Was aussteht, auch zwanzig Jahre nach dem Krieg, ist eine Normalisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen. Doch was heisst das? Grundsätzlich gäbe es wenigstens zwei mögliche Ansätze: Entweder die postjugoslawischen Gesellschaften konzentrieren sich je auf sich selber, lassen einander in Ruhe und verfolgen einzeln ihre Pfade, die sie – noch immer sollte man davon ausgehen – ins gemeinsame Haus der EU führen werden. Die notwendige Voraussetzung dafür ist allerdings, dass jedes Land mit seiner Vergangenheit soweit ins Reine kommt, dass diese wirklich vergeht. Dies wäre noch viel wichtiger für eine andere Form der Normalisierung: Die Länder entscheiden sich, miteinander wieder etwas anzufangen. Das wäre kaum ein drittes Jugoslawien, aber vielleicht ein regionaler Verbund innerhalb der EU. Vielleicht definiert man das Problem am besten so: Was soll eine Familie machen, deren Mitglieder nicht zusammen leben wollen, aber auch nicht voneinander lassen können?