GORAN POTKONJAK

Photography
Novi Zagreb, Travno, 2021
Novi Zagreb, Travno, 2021
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An Attempt to Build a House

Ornice
Ornice
The house on the hill
The house on the hill
The new house
The new house
Home sweet home
Home sweet home

Vor einigen Jahren versuchte ich, mich an den Hof meiner Großmutter zu erinnern. Ich brauchte Zeit, um mir alle Gebäude zu vergegenwärtigen, die dazugehörten. Immer wieder kamen mir neue Details in den Sinn. Erinnerungen wurden geweckt, die seit Jahren nicht mehr präsent gewesen waren.

Eine bestimmte Vorstellung vom ehemaligen Bauernhof blieb in meinem Gedächtnis haften. Ich befürchtete, diese Erinnerung an den Hof eines Tages wieder zu verlieren, da es keine Möglichkeit mehr gibt, jemals dorthin zurückzukehren. Der Bauernhof existiert nicht mehr. Anfang der neunziger Jahre, während des Kriegsgeschehens im ehemaligen Jugoslawien, wurde er vollständig niedergebrannt. So entstand die Idee, den Hof fotografisch umzusetzen – so, wie er mir in Erinnerung geblieben ist.

Zuerst schnitt ich kleine Holzkuben zurecht, bemalte sie mit grauer Farbe und stellte sie auf eine ebenfalls grau bemalte Holzplatte. Ich ließ die Sonne eines späten Nachmittags auf das Modell scheinen und machte die ersten Fotografien.

Aus der ursprünglichen Idee, den Hof in Erinnerung zu behalten, entstand plötzlich eine neue Welt. Ich verspürte ein starkes Bedürfnis, den Hof wieder zum Leben zu erwecken. Ich wollte die Häuser neu zusammensetzen und verschiedene Modelle entwickeln.

Durch die Vielfalt der möglichen Kombinationen tauchten neue Fragen auf: Was bedeutet es, ein Haus zu besitzen? Was bedeutet es, eine Heimat zu haben? Was passiert, wenn eines Tages alles verschwindet? Ist es möglich, ein neues Haus zu bauen? Und wird danach jemals wieder alles so sein, wie es war?

Nach den ersten Fotografien machte ich einen weiteren Schritt zurück und konstruierte ein Haus, wie ich es aus meiner Kindheit kannte. Ich versuchte, mit den bereits bemalten Holzteilen stabilere und komplexere Häuser zu bauen. Es entstanden dutzende Modelle in verschiedenen Größen und Formen, die einander ähnelten. Doch mir wurde bald klar: Selbst wenn ich hunderte, ja tausende dieser Häuser bauen könnte – ob Modelle oder tatsächlich bewohnbare Häuser – den Hof meiner Großmutter würde es niemals wieder geben.

Zürich, 24.3.2013


An Attempt to Build a House

A few years ago, I tried to recall my grandmother's farm. It took me some time to picture all the buildings that belonged to it. Again and again, new details came to mind. Memories were stirred that had not been present for years.

One specific image of the former farm stuck in my memory. I feared I might forget this image of the farm again because there is no way to ever return to that place. The farm no longer exists. In the early 1990s, during the war in the former Yugoslavia, it was completely burned down. This gave rise to the idea of a photographic representation of the farm, as I remembered it.

First, I cut small wooden cubes, painted them gray, and placed them on a wooden board also painted gray. I let the late afternoon sun shine on the model and took the first photographs.

From the initial idea of preserving the memory of the farm, a whole new world suddenly emerged. I felt a strong need to bring the farm back to life. I wanted to rearrange the buildings and create different models.

Through the variety of possible combinations, new questions arose: What does it mean to own a house? What does it mean to have a home? What happens when everything is gone one day? Is it possible to build a new house? And will everything ever be the same again?

After the first photographs, I took another step back and constructed a house as I remembered it from my childhood. Using the wooden pieces I had already painted, I tried to build sturdier and more complex houses. This led to dozens of models in different sizes and shapes, all somewhat similar. But I soon realized: Even if I could build hundreds, even thousands of these houses – whether as models or as real, inhabitable homes – my grandmother's farm would never exist again.

An Attempt to Build a House

An Attempt to Build a House
An Attempt to Build a House
An Attempt to Build a House
An Attempt to Build a House

An Attempt to Build a House II

An Attempt to Build a House II
An Attempt to Build a House II
An Attempt to Build a House II
An Attempt to Build a House II

Vater

Ich weiss nicht, weshalb ich das gesagt habe. Ich wollte niemanden erschrecken und es war mir nicht ums Scherzen. Vielleicht ist damals der schwarze Humor in mir durchgegangen, den mir die Familie meines Vaters vererbt hat: sie scherzen, wenn sie eigentlich am liebsten weinen würden. Es war an der Streetparade 1995. In den Radionachrichten hatte ich am Vorabend von der Offensive der kroatischen Armee in der „Krajina“ gehört. Ich erfuhr, dass Serben gezielt aus dem Land vertrieben wurden. 150 000 Menschen mussten ihre Häuser verlassen und waren in diesen Tagen unterwegs, viele zu Fuss. Ich stand am Bellevue und beobachtete die tanzenden Menschen auf der Strasse. Es dürften etwa gleich viele gewesen sein. Sie lachten und schrieen vor Freude. Eine absurde Situation. Ich verspürte einen immer stärker werdenden Drang, mich mitzuteilen. Neben mir stand ein holländisches Fernsehteam, zu ihnen ging ich hin. „In Kroatien ist im Moment auch eine Streetparade im Gange“, sagte ich. „Da solltet ihr mit euren Kameras hingehen.“ Die Holländer waren ganz erstaunt. Wo ist das denn genau? Welche Musik wird da gespielt? Wie viele Love-Mobiles? Ich hab sie dann aufgeklärt. Niemand hat darauf mehr etwas gesagt. Alle waren wie versteinert.

Ornice ist eines jener Dörfer im Hinterland der kroatischen Meeresküste, die ausschliesslich von Serben bewohnt waren. Auch aus Ornice wurden während der kroatisch-serbischen Auseinandersetzungen alle Einwohner vertrieben, das Dorf wurde anschliessend dem Erdboden gleich gemacht. Meine Grossmutter hatte in Ornice gelebt. Vater war bereits als junger Mann nach Zagreb gezogen, um zu studieren. Hier hatte er sich in eine Mitstudentin verliebt und diese später geheiratet. Das war meine Mutter, eine Kroatin. Für die Sommerferien brachten mich meine Eltern nach Ornice. Im Dorf gab es ungefähr fünfundzwanzig Häuser, kein Restaurant, keinen Laden. Alle lebten von der Landwirtschaft. Grossmutter besass ein grosses Stück Land, rund zehn Hektaren. Sie hatte zwei Arbeitspferde, Mischko und Zora, und ungefähr fünf Kühe. Jeden Sommer kam ein Kälbchen zur Welt, manchmal waren es auch zwei. Grossmutter besass auch Schweine, drei bis fünf, und viele Hühner. Ich streunte mit Cousin Milan den ganzen Tag in der Gegend umher oder wir schwammen im Fluss. Ab und zu brachten wir auch die Kühe meines Onkels Jovan in aller Frühe an ein Plätzchen, wo sie frisches Gras fressen konnten und hüteten sie den Vormittag über. Mittags assen wir bei Grossmutter in der Küche: Polenta oder Speck mit Brot und Zwiebeln und ein Glas Milch. Tagsüber winkte mich Grossmutter immer wieder zu sich und steckte mir etwas zu, Nüsse oder Äpfel. Und jeden Sommer bekam ich hundert Deutschmark. Milan kannte die schönsten Plätze in der Umgebung. Einmal machten wir einen langen Spaziergang zu einer Waldlichtung. Im Stehen sah man nichts Besonderes. Milan legte sich auf den Boden und deutete unter die grünen Blätter. Hier war alles rot, ein dicker roter Teppich aus Walderdbeeren. Wir blieben eine Stunde lang so liegen und schlugen uns die Bäuche voll. Ich habe mein Leben lang nie mehr so süsse Erdbeeren gegessen. Gegen Ende des Sommers holten mich meine Eltern in Ornice ab. Zu dritt fuhren wir jeweils noch zwei Wochen ans Meer. Mit dem Geld meiner Grossmutter konnte ich mir am Strand so viel Eiscreme kaufen, wie ich wollte. Es war eine glückliche Zeit, als ich ein Kind war in Jugoslawien. „Bratstvo i jedinstvo“ hatte man uns gelehrt: Brüderlichkeit und Einigkeit. So fühlten wir auch. Damals spürte mein Vater nicht, dass er anders war als die anderen, als Serbe in Kroatien. Ich erinnere mich, als ich sechzehn Jahre war, sagte mein Vater noch: Ich glaube, es wird nie mehr Krieg geben.

aufgezeichnet von Sabina Brunnschweiler, 2002

 

Father

I don’t know why I said it. I didn’t mean to scare anyone, nor was I joking. Perhaps it was the dark humor that runs in my father’s family, coming to the surface: they joke when they’d rather cry. It happened at the Street Parade in 1995. The evening before, I had heard on the radio about the Croatian army's offensive in the “Krajina.” I learned that Serbs were being systematically driven out of the country. 150,000 people were forced to leave their homes and were on the move during those days, many on foot.

I stood at Bellevue, watching the people dancing in the streets. There must have been about as many of them. They laughed and shouted with joy. It was an absurd situation. I felt an increasing urge to say something. Next to me was a Dutch television crew. I approached them. “There’s also a Street Parade going on in Croatia right now,” I said. “You should go there with your cameras.” The Dutch were completely surprised. Where exactly is that? What kind of music is played there? How many Love Mobiles?

Then I explained it to them. No one said another word. They were all petrified.

Ornice is one of those villages in the hinterland of the Croatian coast that were inhabited exclusively by Serbs. During the Croatian-Serbian conflict, all the inhabitants of Ornice were also expelled, and the village was razed to the ground.

My grandmother lived in Ornice. My father had moved to Zagreb as a young man to study. There, he fell in love with a fellow student and later married her. That was my mother, a Croatian. My parents took me to Ornice for summer vacations.

The village had about twenty-five houses, no restaurant, no shop. Everyone lived off agriculture. My grandmother owned a large piece of land, around ten hectares. She had two workhorses, Mischko and Zora, and about five cows. Every summer, a calf was born, sometimes two. My grandmother also kept pigs, three to five, and many chickens.

I roamed the area with my cousin Milan all day, or we swam in the river. Sometimes we’d take my uncle Jovan’s cows early in the morning to a spot with fresh grass and watch over them until midday. For lunch, we ate in my grandmother’s kitchen: polenta or bacon with bread and onions, and a glass of milk.

During the day, my grandmother would wave me over and slip me something, nuts or apples. And every summer, I got a hundred Deutschmarks. Milan knew the best spots in the area. Once, we went on a long walk to a forest clearing. Standing up, there was nothing special to see. Milan lay down on the ground and pointed under the green leaves.

Everything here was red—a thick red carpet of wild strawberries. We lay there for an hour, stuffing ourselves. I’ve never eaten strawberries so sweet in my life. Toward the end of summer, my parents came to pick me up in Ornice. The three of us would spend another two weeks at the sea. With my grandmother’s money, I could buy as much ice cream as I wanted on the beach.

It was a happy time when I was a child in Yugoslavia. We were taught “Bratstvo i jedinstvo”: Brotherhood and Unity. And that’s how we felt. Back then, my father didn’t sense that he was different from the others, as a Serb in Croatia.

I remember, when I was sixteen, my father said: “I believe there will never be another war.”

Recorded by Sabina Brunnschweiler, 2002

My Father Standing in the Window, 2001

My Father Standing in the Window, 2001

In Mammoth House (“Mamutica” in Croatian) in New Zagreb, there are more than 1,300 apartments accessed through nine entrances, each leading to 18 floors. More than 3,500 people live in the building, which is actually two buildings joined by a large causeway that merges the complex into one unit. Construction was completed in 1977, and in February of the same year, I moved with my parents into apartment number V at Aleja Viktora Bubnja 63. I lived there until 1991, when I left the country shortly before the war began. My mother and father remained in the same apartment.

In 2001, I returned to Zagreb to work on a family portrait project. I felt I had to include an image of “Mamutica,” where I had lived for almost 15 years. While I stood in front of the complex taking pictures, my father stood in the window of his apartment, as he had done for the past 30 years. I waved, and he waved back.

On January 17, 2002, my father passed away. My mother still lives in the same apartment.